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Hüter der Balance – die Schamanen Nepals

Der Vollmond steht über den Bergen, die Zeremonie hat bereits begonnen. Eine junge Frau des Dorfes, die eine unerklärliche Krankheit plagt, hat den Schamanen im „Than“-Tempel der Gemeinschaft aufgesucht. Sie erfleht Rat, was sie gegen ihre unerträglichen Bauchschmerzen tun kann.

Opfergaben für eine Diagnose und Heilung

Mit gebührendem Respekt betritt sie die schmucklose Hütte, nur rote und weiße Stoffstreifen baumeln von den Dachbalken in den Raum hinab. Ein simpler Stein liegt zentral im Raum als Symbol der Inkarnation für die Gottheit Masto. Ehemann und Großmutter begleiten die junge Frau. Gemeinsam bieten sie vor den Augen des Shamanen Opfergaben dar: Blumen, Pflanzenblätter, Räucherkerzen und Reiskörner. Denn aus dem Reis, der auf dem Boden verstreut wird, kann der Schamane lesen. Die Menschen sind überzeugt, dass die Körner, die zuvor durch die Hände des Kranken gingen, dem Geistheiler alle Informationen über die Krankheit mitteilen.

Glockenklänge untermalen die Szenerie, bald wird noch eine Ziege geopfert und das Blut über den Stein Mastos verstrichen werden. Der in Trance sprechende Schamane empfiehlt die Behandlung des Bauchs durch im Feuer erhitzte Löffel, um den bösen Geist aus dem Körper der Frau zu vertreiben. Die Brandmale dieser Prozedur werden sie den Rest ihres Lebens zeichnen.

Kontakt zu den Göttern und Ahnen
In allen Fällen identisch ist die große Bedeutung des Schamanen für die Gemeinschaft des Dorfes. Er repräsentiert ihren spirituellen Führer, vergleichbar mit einem Priester, der in allen Glaubensfragen als moralische Instanz gilt und den Menschen Rat erteilt. Ein Schamane ist das Medium und Sprachrohr zwischen der natürlichen und übernatürlichen Welt. Man glaubt, in Trance könne er seinen Körper verlassen und in die mystische Zwischenwelt reisen, um dort mit den Geistern der Ahnen zu sprechen. Oder er lasse den Geist in seinen Körper fahren, damit dieser durch den Schamanen agieren und zu den Menschen sprechen könne. In wilden Zuckungen und Tänzen, schrillen Gesängen und dem Schlagen der großen Dhyangro-Tambourine-Trommeln manifestiere sich das Übernatürliche in ihm. Für die Bewohner in den abgelegenen Gegenden Nepals, die seit jeher an Naturreligionen glauben – welche dem Buddhismus nahestehen, aber nicht mit ihm identisch sind – ist der Schamane ihr unmittelbarer Kontakt zu den Göttern und Vorfahren.

Wiederherstellung der Harmonie
Erkranken die Dörfler physisch oder mental, brauchen sie Rat bei Problemen oder auch einen Schiedsrichter in Streitfragen, werden sie zum Schamanen des Dorfes gehen. Für diese spirituellen Führer liegen die Ursachen körperlicher und seelischer Probleme in der Disharmonie oder im Bruch mit der natürlichen und moralischen Ordnung in der Welt. Diese muss im Einklang mit den Göttern stehen. Die Schamanen sind Hüter der Balance, sie versuchen, die Harmonie wiederherzustellen.

Als Back to Life das erste Geburtshaus in Mugu baute, war uns bewusst, dass wir zuerst, noch vor der Dorfbevölkerung, den örtlichen Schamanen auf unserer Seite wissen mussten. Nur wenn er die Idee gutheißt, dürfen die Frauen das Geburtshaus nutzen.

Für Recht und Ordnung
In den Gebieten der Naturvölker sind selten offizielle Vertreter des Staates anzutreffen, daher bleiben uralte Traditionen erhalten und von enormer Bedeutung für die kulturelle Identität der Menschen. Wenn weder Polizei noch Richter noch Ärzte für die Bergbewohner in erreichbarer Nähe sind, dann ist der Schamane eine wichtige Persönlichkeit, um für Recht und Ordnung zu sorgen. In den meisten Fällen wird diese Position von Männern ausgefüllt, aber es gibt auch Schamaninnen.

Fest verankert
Die Bevölkerung glaubt an den Rat der Geisterheiler, schon die positive Energie – soviel ist aus der alternativen Medizin bekannt – kann Heilungsprozesse begünstigen: „Ich habe mich schlecht gefühlt, viele Tage lang. Jede Nacht hatte ich Albträume und bekam immer mehr Angst. Ich wurde immer schwächer und erkrankte schwer…“ Der ältere Mann erschaudert, wenn er daran zurückdenkt. „Ich besuchte unseren Schamanen. Er sagte, dass ich unsere Vorfahren nicht genügend geehrt hätte. Dessen erboster Geist habe einen schwarzen Schatten über mich geworfen. Um ihn zu besänftigen, begannen wir eine Lobpreisung meiner Vorfahren. Am nächsten Tag war ich wieder gesund!“

In Nepal werden bis heute viele althergebrachte spirituelle Rituale praktiziert. Eines davon ist der Schamanismus, der sich in vielerlei Formen findet, oft unter verschiedenen Namen – je nach Region und ethnischer Gruppe. So heißt der Schamane bei den Khasa-Menschen in Mugu zum Beispiel „Dhami“, in anderen Regionen aber „Jhankri“, die ethnische Gemeinschaft der Chepangs bevorzugt die Bezeichnung „Pande“, während die Tamangs ihn „Bompo“ nennen.

Back to Life e.V.