Von Stella Deetjen
Als ich im 2018 für mehrere Tage die Sansari Devi Schule in Nuwakot besuchte, die wir nach dem Erdbeben wiederaufgebaut haben, fiel mir ein kleines sechsjähriges Mädchen auf, das zwar ein keckes Gesicht hatte, jedoch von einer großen Schwere umgeben schien. Oder war sie nur schüchtern? Während die anderen Schulkinder fröhlich über den Schulhof tobten und begeistert die Hula-Hoop-Reifen ausprobierten, die ich ihnen mitgebracht hatte, stand sie schweigend am Rand des Geschehens.
Schließlich gelang es mir doch, sie in die Spiele miteinzubinden und langsam ihr Zutrauen zu gewinnen. Gemeinsam mit ihren Klassenkameraden rannte sie den Seifenblasen hinterher und versuchte sie lachend zu fangen. Als sie dann zusammen mit ihren Freundinnen meine Dreadlocks inspizierte und sie zu großen Zöpfen flocht, wollte sie gar nicht mehr damit aufhören.
Seelenschmerz
Dennoch fühlte ich die Traurigkeit, die das kleine Mädchen umgab, sie hatte ein schweres Herz, das konnte ich spüren. Ich fragte sie, ob sie gerne in die Schule ging, was sie bejahte. Mit ihren Mitschülern schien sie sich gut zu verstehen und wirkte trotzdem irgendwie verloren. Schließlich sprach ich ihren Lehrer an, ob es vielleicht Probleme zu Hause gäbe, was er verneinte. Ich ließ nicht locker und auf meine bohrenden Nachfragen erzählte mir der Schuldirektor, dass Jamunas Mutter alleinerziehend und daher sehr arm sei. Leider gibt es viele solche Schicksale in Nepal, mein Instinkt sagte mir, dass mehr dahinterstecken musste. Armut allein bricht nicht das Herz eines Kindes.
Also beschloss ich, nach Schulschluss die Kleine nach Hause zu begleiten, um mit eigenen Augen zu sehen, wie sie lebt. Hand in Hand liefen wir den Berg hinunter, die kleine Behausung, in der ihre Mutter und sie leben, ist eine Dreiviertelstunde Fußweg von der Schule entfernt. Als wir dort ankamen, war der ärmliche Raum verschlossen, die Mutter war noch nicht von ihrer Tagelöhnerarbeit zurück und Jamuna besaß keinen Schlüssel. Wir warteten also und unterhielten uns. So erfuhr ich dann den wirklichen Grund ihrer Traurigkeit.
Traumatische Trennung
Jamuna hat eine Zwillingsschwester, Ganga, von der sie unlängst getrennt wurde. Sie vermisste sie sehr und Tränen liefen das kleine Gesicht hinunter, als sie von ihr erzählte. Als sich die Nachbarin zu uns gesellte, berichtete diese mir mehr über die Familie.
Jamunas Mutter Mina hat vier Kinder geboren. Ganga und Jamuna waren ihre jüngsten mit sechs Jahren, das Mädchen Sunita war acht und Ganesh, ihr Ältester, war bereits 16 Jahre alt. Sie wuchsen im Dailekh Distrikt in Westnepal auf, die Familie war arm, kam aber irgendwie über die Runden. Minas Ehemann Khadka Ramtel war leider dem Alkohol verfallen, er schlug und misshandelte seine Frau regelmäßig, wenn er abends volltrunken nach Hause kam. Irgendwann hielt Mina die körperliche und seelische Pein nicht mehr aus und floh mit ihren drei Mädchen zu ihren Eltern nach Surkhet. Ganesh blieb bei seinem Onkel im Heimatort, wo er auch die Schule besucht.
So gerne Minas Eltern ihrer Tochter und den Enkelinnen helfen wollten, die Belastung, so viele Münder durchzufüttern, war zu groß für die alten Leute. Mina fand keine Arbeit in den Dörfern um Surkhet herum und die Felder der Großeltern gaben nicht genug her, also traf sie den schwersten Entschluss ihres Lebens. Sie beließ Sunita und Ganga bei den Großeltern und zog mit der kleinen Jamuna los ins weit entfernte Nuwakot, weil sie in dem ehemaligen Erdbebengebiet Arbeit als Tagelöhnerin auf Baustellen zu finden hoffte.
Auch mir standen jetzt die Tränen in den Augen. Ich konnte mir vorstellen, welchen Trennungsschmerz die Kleine durchmachte und beschloss, sie in unser Patenschafts- programm aufzunehmen. Ich versprach ihr, dass sie ihre Schwester besuchen könnte, wir würden die 700 km weite Reise organisieren und die Kosten dafür übernehmen, sodass die Zwillinge in Kontakt bleiben könnten.
Die Wendung
Doch es kam noch viel besser: Zwei unserer Mitarbeiter reisten nach Surkhet und machten die Großeltern in einem Dorf ausfindig. Dem alten Ehepaar fiel ein riesiger Stein vom Herzen, als wir ihnen anboten, die Mädchen zu ihrer Mutter nach Nuwakot zu bringen, wo wir sie durch Patenschaften unterstützen würden, so dass die kleine Familie wiedervereint werden könnte. Neu eingekleidet und sehr aufgeregt traten die beiden Mädchen die 18-stündige Reise an. Die Wiedersehensfreude war riesig. Mina sagte uns, das sei der schönste Tag ihres Lebens und dankte unserem Team aus ganzem Herzen. Sunita und Ganga haben wir sogleich eingeschult und nun laufen die drei Schwestern gemeinsam jeden Morgen fröhlich zum Unterricht.
Durch die Patenschaften decken wir nicht nur die benötigte Schulkleidung und Lernmittel ab, sondern auch die wichtigsten Lebensnotwendigkeiten sowie medizinische Hilfe im Notfall. Mina arbeitet weiterhin unermüdlich auf den Baustellen in Bidhur, so gelingt es ihr, die Miete zu bezahlen und zumindest für eine Mahlzeit am Tag zu sorgen.
Kochgeschirr, Decken, Kissen und Schlafmatten haben wir ihnen zukommen lassen. Das Glück ist wieder eingezogen in dem kleinen kargen Raum, den sich Mutter und Töchter nun teilen. Manchmal ist es so einfach zu helfen.
Da mir die Mädchen sehr ans Herz gewachsen sind, habe ich ganz besondere Paten für sie gefunden: den Mann mit großem Herz und großer Stimme, Bill Ramsey und seine überaus sympathische Ehefrau.