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Mein holpriger Weg zur Entschleunigung

Während meiner 16-tägigen Reise durch die Bergregion Mugu habe ich Entschleunigung erlebt wie nie zuvor: kein Handyempfang, kein Strom für den Laptop, keine Nachrichten über Corona, den Ukrainekrieg oder die drohende Klimakrise, auch kein Netflix oder Social Media und anstelle von Staus auf überfüllten Straßen gibt es Pisten, auf denen sich widerstandsfähige Jeeps mit maximal 10km/Stunde fortbewegen, scheinbar unüberwindlichen Erdrutschen trotzen und Mensch und Maschine alles abverlangen. Sonnenaufgang und Sonnenuntergang bestimmen den Rhythmus des Tages.

Bereits die Anreise in die Gebirgsregion ist ein Abenteuer. Mit einer klapprigen, zweimotorigen Maschine fliegen wir ins Hochgebirge nach Bajura/Kolti. Mit alten Jeeps fahren wir auf einer halsbrecherischen Piste immer dem Karnali Fluss folgend. Ich erfahre, dass diese Geröllpiste, von den Nepalesen „Karnali Corridor Project“ genannt, an einem nicht genannten Zeitpunkt in der Zukunft bis nach China ausgebaut werden soll. Ich frage mich, wie lange das wohl dauert und ob dann auch die Erdrutsche beseitigt werden, die sich alle paar Minuten vor uns auftürmen und ob die Piste dann auch gegen Steinschlag gesichert sei. Solche Sicherheitsbedenken kennt man hier nicht und ist froh, dass der Distrikt Mugu nun endlich zumindest im Randgebiet eine „Straße“ hat, die den Austausch von Waren ermöglicht und tagelange Wanderungen erspart.

Mittags erreichen wir eine Hängebrücke, die zum Dorf Hyanglu führt, das weit oben am Berg liegt. Hier hat Back to Life 2019 eine Schule gebaut und gemeinsam mit den Dorfbewohnern Zitronenplantagen angelegt, um eine nachhaltige Einkommensmöglichkeit zu erschließen.

Nach nepalesischer Tradition werden Gäste mit einer feierlichen Zeremonie willkommen geheißen. Schon von weitem hören wir die Trommeln der Schamanen, die uns zusammen mit den Bewohnern der umliegenden Dörfer erwarten. Später erzählt Stella mir, dass der Besuch von Fremden für die Bewohner der Gegend eine willkommene Abwechslung in ihrem Alltag sei, über den man sich anschließend lange austauschen könne. Die Menschen sind farbenfroh gekleidet und haben selbstgeknüpfte Ketten aus Blumen oder Zweigen mitgebracht, sogenannte malas, die uns zur Begrüßung umgehängt werden. Dazu werden uns blutrote tikas, traditionelle Segenszeichen aus Pflanzenpulver, auf den Punkt zwischen den Augenbrauen aufgetragen. Das ist die traditionelle Begrüßung.

Die malas drücken und kratzen am Hals, der schweißtreibende Aufstieg nach Hyanglu lässt die Farbe der tika über meinem Gesicht verlaufen. Mein nepalesischer Kollege lässt mich respektvoll wissen, dass ich furchterregend aussehe und ich versuche, mir mit Wasser aus der Trinkflasche das „Blut“ aus dem Gesicht zu waschen, leider erfolglos.

ZU HAUSE BEI FREUNDEN

Zurück auf der anderen Seite der Hängebrücke steigen wir wieder in die Jeeps und fahren weiter in Richtung Ratapani. Spät am Abend, es ist schon lange dunkel, kommen wir endlich an. Da es in den Bergdörfern keine Straßenbeleuchtung gibt und Lichtverschmutzung hier noch ein Fremdwort ist, können wir die Hand vor Augen nicht sehen, als der Jeep den Motor stoppt. Zum Glück hat jeder in unserer Gruppe bereits seine Stirnlampe am Kopf, ohne die wir uns auf dem unbefestigten Weg zum Haus unseres Gastgebers den Hals brechen würden.

Da es in den Bergen von Mugu kaum Hotels oder Gästehäuser gibt, beherbergt uns ein Mitarbeiter unserer Partnerorganisation in seinem Haus. Ich teile mir ein Zimmer mit Stella und freue mich darüber, dass ich meine aufblasbare Matratze aus Deutschland mitgebracht habe. Das Zimmer hat zwei Fenster mit Fensterläden, aber keine Scheiben. Über unseren Schlafplätzen an der Decke sitzen ein paar sechsbeinige Tierchen, die uns aber nicht weiter stören, nur den Skorpion jagten wir hinaus. Zum Glück hat das Haus ein Solarpaneel auf dem Dach, so dass es den Luxus einer Glühbirne in unserem Zimmer und in der Küche gibt. Einen Kühlschrank, Fernseher oder Möbel außer den Betten gibt es nicht. Eine Heizung schon gar nicht. Im Hof steht ein Tisch mit Plastikstühlen für Gäste.

Am nächsten Morgen nutze ich die Waschgelegenheit für Frauen, ein sorgfältig mit Tüchern als Sichtschutz abgehängter Bereich, der sich im Freien hinter dem Haus befindet. Das Wasser wird im Eimer herbeigeholt, zum Duschen gibt es eine Kelle. Die Männer waschen sich einfach an der Wasserstelle vor dem Haus, die von einem 500 L Wassertank bespeist wird, der immer wieder gefüllt werden muss. Ein Bad gibt es in keinem Haus der Bergdörfer. Die meisten Bergdörfer haben nicht einmal Wasserstellen im Dorf, geschweige denn vor dem Haus. Wir schwelgen also im Luxus mit unserer Wassersituation.

Nach dem Frühstück (Dal Bhat) findet die Einweihungszeremonie der Schule statt. Sie ist das größte und solideste Gebäude, das ich bisher in Mugu gesehen habe, zweistöckig, erdbebensicher, gelb angestrichen und mit einem barrierefreien Toilettenblock. Wie bereits in Hyanglu werden wir mit Malas und Tikas, Trommeln, Tanz und Gesang von den Dorfbewohnern empfangen. Die Zeremonie dauert mehrere Stunden.

Damit ich Leben und Kultur besser kennenlerne, unternimmt Stella mit mir am nächsten Tag einen Gang durch das Dorf. Es geht entlang des Flusses, an dessen Ufern die Bauern gerade die Reisterrassen für den bald beginnenden Monsun vorbereiten. In einer malerischen landschaftlichen Idylle ziehen die Bauern mit ihren Ochsengespannen und mittelalterlich anmutenden Pflügen die Furchen in den bereits bewässerten Boden. In manchen Terrassen steht der Reis schon 30 cm hoch und leuchtet in einem derart intensiven Grün, dass ich kaum den Blick abwenden kann. Aus vorherigen Reisen nach Asien weiß ich, dass dies die Setzlinge sind, die später, wenn der Monsun eingesetzt hat, in die vorbereiteten Terrassen gepflanzt werden – jede Pflanze einzeln und von Hand.

Als wir durch die Reisfelder laufen, barfuß und immer auf den schmalen Lehmwällen balancierend, die die Terrassen voneinander trennen, stellen wir fest, dass uns Thorsten klammheimlich gefolgt ist. Thorsten ist ein typischer nepalesischer Mischlingshund, der uns seit unserer Ankunft in Ratapani nicht von der Seite geht und nachts sogar vor unserer Türe schläft. Da keiner sagen kann, wem der Hund gehört und jeder Hund einen Namen braucht, haben wir ihn Thorsten genannt. Ihn scheint es nicht zu stören, Hauptsache er kann dabei sein. Tierlieb wie ich bin, freut es mich, dass alle Hunde die ich zu Gesicht bekomme, gut genährt und gesund aussehen. Und dass, obwohl die meisten Menschen in den Bergen selber nicht viel zu essen besitzen. Dosenfutter gibt es hier jedenfalls nicht.

Unser nächstes Ziel ist das Bergdorf Gamtha, in dem Back to Life ein Geburtshaus errichtet hat. Die Bergstraße, wenn man sie so nennen möchte, ist so schlecht, dass wir uns minütlich den Kopf am Dach anschlagen, ganze drei Stunden lang. Außerdem sitzen 12 Personen in dem Fahrzeug, das in Deutschland für sechs Personen zugelassen wäre. Nach einer halben Stunde schaue ich in einer Kurve zurück auf den Weg, den wir gekommen sind und sehe, dass Thorsten es sich nicht hat nehmen lassen, hinter uns herzulaufen. Erst bin ich gerührt, dann schwant mir, dass der treue Kamerad es sich wahrscheinlich nicht nehmen lässt, uns bis zur völligen Erschöpfung zu folgen. Es geht steil bergauf und bergab – eine Mörderstrecke. Den Rest der Fahrt hoffe ich, dass Thorsten aufgibt und zurück ins Dorf läuft.

Bei Sonnenuntergang kommen wir endlich in Gamtha an. Wir steigen aus, strecken unsere Glieder, schultern unser Gepäck und schon geht es den Berg hinauf zum Geburtshaus. In diesem Moment kommt – völlig k.o., mit hängendem Kopf und total verdreckt – Thorsten um die Ecke. Wir können es nicht fassen und begrüßen unseren Fellfreund. So viel Treue und Ausdauer verdient Anerkennung. Thorsten darf uns auf das umzäunte Grundstück des Geburtshauses begleiten, das sonst für Hunde absolut tabu ist. Dort gibt es Wasser und Reis und um das Happy End komplett zu machen, entscheidet sich der Leiter unserer Partnerorganisation, der uns die letzten Tage begleitet hat, Thorsten zu adoptieren.

Ein Ort der Ruhe und der Kraft

Das Geburtshaus liegt prominent auf einem Bergrücken. Es ist ein wunderschönes, blauweißes, einstöckiges Backsteingebäude mit separater Küche, Gemüsegarten und einem eigenen Spielplatz für die Kinder, deren Mütter hier zur Vor- und Nachsorge kommen.

Die Atmosphäre ist berührend, der Blick ins Tal atemberaubend – eine Welle der Emotionen übermannt mich und mir kommen die Tränen. Ich stelle mir die Frauen vor, die hier ihre Kinder sicher zur Welt bringen dürfen. Unsere professionellen Hebammen vermitteln den Müttern hier das nötige Wissen, um den Säuglingen die bestmöglichen Chancen auf einen guten Start zu ermöglichen.

Hausbesuch in den Bergen

Nach zwei eindrucksvollen Tagen im Geburtshaus Gamtha geht es für mich zusammen mit meinen nepalesischen Kollegen weiter in Richtung Libru. In diesem weit abgelegenen Dorf am Karnali-Fluss, wird Back to Life in den nächsten Tagen eins der fünf diesjährigen Gesundheitscamps ausrichten und mehr als 2.400 Frauen, Männern und Kindern die Möglichkeit geben, einen Arzt zu konsultieren.

Zwölf Stunden und zahllose Beulen am Kopf später erreicht unser Fahrer, der unzählige Erdrutsche und einen Reifenplatten meistern konnte, endlich das Ziel. In der Schule von Libru, in der auch das Gesundheitscamp stattfinden wird, werden wir einquartiert. Eine Decke auf dem Boden bildet die Schlafstätte. Wenig später treffen auch die Ärzte, Assistentinnen und Back to Life-Hebammen ein und mein nepalesischer Kollege Anup, der das Gesundheitscamp leitet, stellt in einem Meeting alle beteiligten Personen vor und erklärt den Ablauf der nächsten Tage.

Beim Abendessen tauschen wir uns über unsere Erwartungen aus. Sieben Ärzte der Fachrichtungen Innere Medizin, Pädiatrie, Gynäkologie, HNO und Pharmazie sind eigens aus Kathmandu angereist. Keiner von ihnen war jemals in dieser abgelegenen Bergregion, aber alle haben das gleiche Motiv teilzunehmen: etwas zurückgeben, an die Menschen, die weniger privilegiert sind als sie selbst.

Um vier Uhr ist die Nacht zu Ende. Die ersten Patientinnen erreichen bereits das Gesundheitscamp, viele von ihnen sind die ganze Nacht unterwegs gewesen, um einen Arzt zu sprechen. Gegen acht Uhr warten bereits Hunderte. Ich beobachte, wie Ärzte, Assistenten und Back to Life Mitarbeiter vier Tage lang alles geben, um jedem Patienten gerecht zu werden, wie akute Krankheiten behandelt werden und wie jeder einzelne Patient aufgeklärt wird, wie er ansteckende und nicht ansteckende Krankheiten vermeiden kann. Bei einigen Patienten diagnostizieren die Ärzte Krankheiten, die eine Überführung in ein Krankenhaus im Tiefland zur sofortigen Behandlung unumgänglich machen. Auch darum kümmert sich unser Team die folgenden Wochen (und manchmal auch Monate) hingebungsvoll.

Ich habe die Hoffnung, dass die nepalesische Regierung in den kommenden Jahren das Gesundheitssystem in Mugu verbessert und die hier lebenden Menschen nicht mehr ausschließlich darauf warten müssen, unser Gesundheitscamp zu besuchen, um einen Arzt zu konsultieren. Doch bis dahin wird noch viel Wasser den Karnali-Fluss hinunterfließen.

Mit dem Ende des Gesundheitscamps geht auch meine Zeit in Mugu zu Ende. In einer halsbrecherischen (Erdrutsche, Überschwemmungen, Steinschlag, riesige Straßenlöcher), aber auch atemberaubend schönen Fahrt (Bergpanoramen, Reisfelder, Flüsse, Menschen in ihren Alltagssituationen) legen wir im Jeep 500 km zurück, um Kathmandu zu erreichen. Die Fahrt dauert vier Tage und gibt mir Gelegenheit, mehr von Nepal zu sehen.

Auch heute, Monate nach meiner Reise, kann ich nur sagen: ich freue mich schon auf meinen nächsten Besuch in Nepal. Stella und meinen lieben nepalesischen Kollegen, die ich begleiten durfte, die mir jede Frage geduldig beantwortet haben und die jederzeit um mein Wohl besorgt waren, danke ich für diese Eindrücke und Erlebnisse von Herzen.

Namaste.

Back to Life e.V.