von Stella Deetjen
„Wir hatten eigentlich gar keine Hoffnung, dass er überlebt. Bei seiner Geburt war er so klein wie eine Maus. Und so dünn. Doch richtig schlimm wurde die Situation, als seine Mutter am 15. Tag nach der Niederkunft starb“, berichtet Jhupri Rawal, die Großmutter des Säuglings, unserem Team in Mugu.
LEBEN UND TOD l Eindeutig ist er viel zu früh auf die Welt gekommen, wahrscheinlich um den 7. Monat. Um das Bergdorf herum gibt es (noch) kein Geburtshaus, wohin sich die werdende Mutter hätte wenden können. Sapura hat ihr Kind ohne Hilfe zur Welt gebracht, daran ist sie aber nicht gestorben. Die 22-Jährige war bereits seit Jahren schwer krank. Ihre Familie spricht von immer wieder auftretendem Fieber, chronischem Durchfall, Schmerzen in Bauch und Darm. Außerdem hätte sie die Nahrung nicht mehr verdaut. Es folgte eine dreijährige Leidenszeit, in der die Familie alle Mittel aufgewandt sowie ihr Stück Land und ihre Ziegen verkaufte, um medizinische Hilfe zu finden. Sie brachten Sapura ins Tiefland in ein Krankenhaus in Nepalgunj, dann nach Kathmandu und schließlich sogar nach Indien in ein spezialisiertes Krankenhaus in Lucknow. Ihre Hoffnungen wurden zerschlagen, als die Ärzte in Indien sagten, sie könnten nichts für Sapura tun. Da die Großeltern weder lesen noch schreiben können, konnten sie auch mit der Diagnose nichts anfangen und wussten nicht, worunter Sapura litt. Die medizinischen Unterlagen verbrannten sie nach dem Tod der jungen Mutter.
HOFFNUNGSSCHIMMER l Als unser Team in Mugu im Herbst 2019 auf das Schicksal der Familie aufmerksam gemacht wurde, machte sich unser Health-Assistant Pahal mit seinen Kollegen sofort auf den Weg zu ihnen. Unsere Mitarbeiter unterhielten sich ausführlich mit den verzweifelten Großeltern. Der Großvater Raj Bahadur sagte ihnen: „Mein einziger Sohn, der Vater des Babys, ist seit der schweren Krankheit seiner Frau schwermütig geworden. Um unsere Schulden bezahlen zu können, arbeitet er als Tagelöhner in Indien. Es bleiben also nur wir, die sich um das Kind kümmern können. Und das werden wir tun, egal wie schwer es uns in unserem Alter fällt.“
Die Großmutter Jhupri sprach offen über die aktuellen Probleme, mit denen sie fertig werden müssen. „Als wir auf einmal mit dem Baby alleine dastanden, wussten wir nicht, wie wir es füttern sollten. Es gab keine andere stillende Mutter im Dorf. Unsere Nachbarn rieten uns, nach Gamgadhi zu laufen, um dort Pudermilch zu kaufen. Damit kann der Kleine überleben. Doch das ist teuer, wir können es uns eigentlich gar nicht leisten und müssen uns immer wieder Geld leihen.“
Alles Weitere nahm unser Team in die Hand und besorgte Babynahrung, Kleidung sowie die dringend notwendige Baby-Ausstattung. Erleichtert und erfreut nahmen die Großeltern unsere Hilfe an. Außerdem wurde der Kleine zum ersten Mal medizinisch untersucht.
Der Arzt hatte erfreuliche Nachrichten: Der Junge, wenn auch viel zu früh geboren und dadurch kleiner und immer noch schwach, zeige ansonsten keinerlei bedenkliche Auffälligkeiten. Er schätzte ihn auf 4-5 Monate.
BANGEN UND HOFFEN | Doch ein weiteres Unglück schien seinen Lauf zu nehmen: Schon bei der zweiten Untersuchung wenig später stellte der Kinderarzt in der kleinen Distrikt-Hauptstadt Gamgadhi leider eine akute Lungenentzündung fest. Er leitete umgehend eine medikamentöse Therapie ein. Um in der Nähe der ärztlichen Hilfe verbleiben zu können, brachten wir die Großmutter mit dem Kleinen in einem Guesthouse in Gamgadhi unter. Es folgten Tage des Bangens und Hoffens für uns alle. Unser Team tat, was es konnte, um den Kleinen zu retten. Doch letztendlich würde das Schicksal entscheiden.
Pahal, unserem Gesundheitsassistenten, gilt meine ganze Dankbarkeit. Auch für ihn ist Back to Life nicht einfach nur ein Job, sondern er setzt sich ganz und gar für die Menschen und für die Sache ein. Um Bindas kümmert er sich, als wäre er sein eigener Sohn.
ENTWARNUNG UND ERLEICHTERUNG | Und das Schicksal war gnädig: Bindas, unser kleiner Kämpfer, überlebte! Die Medikamente schlugen an. Der kritische Punkt war überwunden und die Lungenentzündung nicht mehr lebensbedrohlich. Mir liefen die Tränen vor Freude, als unser Team in Mugu uns in Kathmandu Bescheid gab.
Leichten Herzens und voller Dankbarkeit machte sich die Großmutter mit dem Kleinen auf den Heimweg in ihr Dorf. Ausgestattet mit allem, was sie für die nächste Zeit brauchen. Pahal hat der Großmutter bereits beigebracht, wie sie zukünftig aus dem lokalen Getreide selbst einen nährstoffreichen Babybrei mahlen kann. Da Bindas ja leider keine Muttermilch erhalten kann, sind die richtigen Nährstoffe überlebenswichtig für ihn, um ein gesundes Immunsystem zu entwickeln. Engmaschig werden wir Bindas weiterhin ärztlich untersuchen lassen und ihn auf seinem schweren Weg ins Leben begleiten.
KLUGE ENTSCHEIDUNG | Es ist wichtig, den Großeltern auf die Beine zu helfen, damit sie den Jungen bei sich behalten und großziehen können. So verhindern wir, dass er wegen ihrer sozialen und wirtschaftlichen Not in einem Kinderheim oder Waisenhaus enden würde.
Nach eingehenden Gesprächen entschied das alte Ehepaar sich dafür, mit unserer Hilfe in ihrem Dorf einen kleinen Laden für Kurzwaren zu eröffnen. Gemeinsam mit unserem Team erstellten sie einen Businessplan und errechneten das Startkapital, also die Einrichtung des Ladens und die ersten Waren zum Verkauf, wie Reis, Öl, Zucker, Salz bis hin zu Streichhölzern und Seife. In den kommenden Wochen brachte unser Team ihnen auch einfache Buchführung bei, damit sie den Überblick über den Verkauf der Waren sowie den Ankauf von Neuwaren behalten. Sie freuen sich über die Chance, durch diese Einkommensförderung künftig selbstbestimmt ihr Dasein meistern zu können.
Dann geschieht etwas sehr Schönes. Nachdem ich Bindas’ Geschichte bei Facebook und In- stagram veröffentlicht habe, meldet sich Carsten. Er bietet an, die Schulden der Familie in Mugu zu übernehmen. Ich berichte ihm von den Plänen, die wir für die Familie haben. Carsten ist sofort mit dieser nachhaltigen Lösung einverstanden und kommt für die Einrichtung des Ladens sowie die erste Warenausstattung auf.
DER LADEN LÄUFT…
Stolz sitzt Raj Bahadur Rawal nur 3 Monate später in seinem Laden und wartet auf Kundschaft. Es ist 2020, der Frühling beginnt. Die Tür steht weit offen und die frische Morgenluft der Berge weht hinein. Seine Frau neben ihm schaukelt Bindas in ihren Armen. Es ist ein kleiner Laden, man kann nur einen Schritt hineintreten. Die Kunden sagen ihm, was sie benötigen und er sucht das Gewünschte aus den gut gefüllten Regalen heraus. Er bietet alles Wichtige für den täglichen Gebrauch an, von der Zahnbürste über Seifen bis hin zu den in Nepal unvermeidlichen Instant-Nudeln. Da Raj Bahadur im Dorf den Ruf eines guten und ehrlichen Mannes genießt, kommen die Nachbarn gern in seinen Laden. Ein jeder freut sich, dass es für die Familie wieder aufwärts geht. Die Alten waren wirklich geschlagen vom Schicksal, da sind sich alle einig.
Mittlerweile trägt sich das Geschäft von selbst und mit den laufenden Einnahmen kann Raj Bahadur den Nachschub der Waren bezahlen, sowie die Schulden abtragen. Selbst für seine Familie sorgen zu können, ist eine Frage der Ehre für den alten Mann. Carsten hat ihm ein großes Geschenk gemacht. Neben Bindas ziehen die Großeltern auch die dreijährige Schwester groß. Raj Bahadurs wettergegerbtes Gesicht leuchtet, wenn er seine Kunden empfängt und sie zu einem kleinen Schwätzchen auf die Holzbank einlädt.
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„Zu meiner großen Freude hat sich eine Patin gefunden, die Bindas auf seinem harten Weg ins Leben begleiten möchte. Durch die Frühgeburt gilt er als Kind mit besonderen Bedürfnissen. Das bedeutet, dass unser Team ihn und die Großeltern engmaschig betreut. Es ist sehr mutig, ein ungewisses Schicksal wie das von Bindas zu fördern, da sich das Blatt jederzeit wenden kann – trotz aller Fürsorge.“
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Die Großeltern kümmern sich rührend um ihren Enkel und haben ihm einen sehr positiven Namen gegeben: Bindas, was so viel bedeutet wie „unbeschwert“ oder „happy-go-lucky“.
Bindas umklammert kräftig den Zeigefinger unseres Mitarbeiters. Er scheint sich über dessen Besuch zu freuen. Dil Subba ist unser Patenschaftskoordinator in Nepal, er organisiert die Hilfen und die Teams, die sich um die Kinder und deren Familien kümmern. Bei diesem Besuch in Mugu prüft er selbst nach, wie sich der Laden entwickelt und ist sehr zufrieden mit den Ergebnissen.
„Ohne Hilfe hätte Bindas nicht überlebt. Um Schicksale wie dieses zum Guten zu wenden, arbeite ich bei Back to Life.”
Trauriger Abschied
Wir müssen leider Abschied nehmen von unserem kleinen Schützling Bindas. Er war ein kleiner Kämpfer und der ganze Stolz seiner Großeltern und meines Teams in Mugu.
Im Alter von einem Jahr und drei Monaten verstarb Bindas im Sommer 2020 ganz plötzlich. Er litt an Husten und rührte seinen Brei nicht mehr an. Wegen des strengen Corona-Lockdowns konnte die Familie den weiten Tagesmarsch durch die Berge bis zu unserem Büro in Mugu nicht zurücklegen. So erfuhren wir erst davon, als es schon zu spät war.
Alle, die mit Bindas und seinen Großeltern zu tun hatten, sind sehr traurig. Genauso wie das deutsche Team und Bindas‘ Patin. Wie gerne hätten wir ihn noch viele Jahre begleitet und aufwachsen sehen. Der Familie ist unsere weitere Hilfe sicher.